10 | Hauptbahnhof

Adresa: Nádražní 418/1

Eisenbahn als Symbol der Flucht oder der Vernichtung

Der Hauptbahnhof der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn und später der Staatlichen Nordbahn, heute Brünn Hauptbahnhof, war einer der ältesten großen Bahnhöfe der Habsburgermonarchie. Der reguläre Betrieb auf der Strecke Brünn – Wien wurde 1839 aufgenommen, zehn Jahre später wurde dann die Strecke nach Norden eröffnet. Die Eisenbahnverbindung erleichterte die Unternehmertätigkeit und ermöglichte es den Löw-Beers, nach Europa und in die ganze Welt zu expandieren. Die Eisenbahn ist somit eines der Symbole ihres Erfolgs, aber auch ein trauriges Symbol ihres Endes – in Eisenbahnwaggons wurden Juden in Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager geschickt. Geschichten der Entwurzelung, Flucht und der anschließenden Suche sind Geschichten des Überlebens, aber wir dürfen jene Millionen nicht vergessen, die nicht entkommen sind.

Hlavní nádraží. Foto: Štěpán Kaňa

Der Hauptbahnhof in Brünn. Foto: Štěpán Kaňa.

Aus den Erinnerungstexten von Daniel Low-Beer:

Mein Großvater Walter wollte gerne bleiben und seine Fabrik sowie sein Haus in Hlinky verteidigen, aber die Oma Alice bewegte ihn zur Flucht. Die Großmutter erhielt ein Visum auch für ihre Mutter Marguerite, und sie reisten zusammen nach Frankreich, woher sie nach England fahren sollten. Aber Marguerite wollte nicht weiter gehen und beschloss, zurückzukehren, um ihrer anderen Tochter und ihrer Schwester Dora zu helfen, die in Ungarn stecken blieben.

Marguerite Stadler

Foto: Erinnerung an Marguerite Stadler und ihre Schwester Dora. Foto: Geni.com

Zur Erinnerung an Marguerite bewahrt die Familie zwei Briefe, die am 15. und 19. Juni 1944, kurz vor der Deportation nach Auschwitz, an ihre Tochter Alice geschrieben wurden. Ihr Ton ist klar, überzeugend, aber auch unerbittlich.

15. Juni 1944

„Alle möglichen Gerüchte verbreiten sich im Ghetto, und es ist möglich, Gott verhüte es, dass sie sich erfüllen, wie in so vielen Städten. Aus diesem Grund will ich euch schreiben, bevor wir zur Deportation kommen, was den Tod bedeuten würde. Obwohl ich das Leben sehr liebe, schaue ich mit Frieden in die Zukunft. Meine Gedanken sind immer bei euch, meine lieben Kinder und Enkelkinder. “

19. Juni 1944

„Wir sollen in ein paar Tagen deportiert werden. Damit ihr eine Vorstellung davon habt, wie wir leben: Das Ghetto ist mit einem hohen Holzzaun abgeschottet, vor dem Eingang steht ein Polizist. Es ist nur je ein Sessel erlaubt; Eier, Butter und Sahne sind verboten, Fleisch gibt es 100 g pro Person und Woche. Und wir müssen gelbe Sterne tragen: Wer es nicht tut, wird gnadenlos ins Konzentrationslager geschickt.

Das ist die christliche Kultur der Nächstenliebe, auf die sie so stolz sind. Sie laden einen in Viehwagen, je fünfzig oder mehr Menschen. Mögen unsere Folterer und Mörder verflucht sein. Ihre Namen sollen bekannt gegeben werden, wenn der Abrechnungstag kommt, und ich bitte euch, diese Namen denen zu geben, die berufen werden, sie zu richten. Meine teuersten Kinder und Enkelkinder, wie gerne ich euch sehen würde. Meine letzten Gedanken werden euch allen gehören. “

Auch der Mächtigste der Löw-Beer-Familie, Alfred, flüchtete mit der Bahn aus Brünn, als armer Schneider verkleidet. Die Familie wartete auf ihn ungeduldig in London. Da er nicht kam, schickten sie einen englischen Spion, Sir Paul Dukes, der versuchen sollte, ihn zu finden. Sir Paul fand von einem der Gestapo-Mitglieder heraus, dass man zu ihm mittags zu Ostern einen älteren Mann in Zivil zum Verhör brachte, der behauptete, eine Schneiderei in Prag zu haben. Aber er sollte sich viel vornehmer als ein gewöhnlicher Schneider benommen haben und sehr nervös gewesen sein. Am nächsten Tag wurde an der Eisenbahn eine männliche Leiche gefunden. Es gibt viele Varianten von Erklärungen, was damals passierte, aber nur eine Gewissheit: Alfred Löw-Beer, einer der reichsten und mächtigsten Männer der damaligen Tschechoslowakei, starb an der Eisenbahnstrecke auf der Flucht aus Brünn. Um eine Rekonstruktion des ganzen tragischen Ereignisses bemüht sich das Buch An Epic of Gestapo des bereits erwähnten Sir Paul Dukes.

Die Geschichte darüber, was mit unserer Fabrik passiert ist, entdeckte ich erst fünfzig Jahre später. Damals, irgendwann in den frühen 1980er Jahren, begann mein Vater Thomas Löw-Beer einen Roman namens Schindlers Arche zu lesen. Papa las oft bis spät in die Nacht, oder studierte medizinische Dokumente, meine Mutter machte das Licht aus, küsste ihn zur guten Nacht und schlief ein. Während unser ganzes Haus friedlich schlief, konnte sich mein Vater nicht losreißen und las eine Seite nach der anderen. Zuerst war es nur eine gute Geschichte mit einem starken ethischen Anliegen, erst später begann er die Landschaft und die Orte seiner Kindheit zu erkennen, die Fabrik, den Bach, den Bahnübergang, die Namen von Ortschaften, die er als kleiner Junge kannte. Der Ort, an dem er einst gelebt hatte und an den er nicht mehr zurückkehren konnte, wurde plötzlich in einer anderen, unbekannten Geschichte lebendig. Mein Vater las die ganze Nacht über und würde wahrscheinlich die ganze Woche weitermachen, wenn es nötig wäre. Er wollte das Buch zu Ende lesen, und zugleich wollte er nicht, dass es endet. Er war wieder in der Tschechoslowakei, erst im Morgengrauen kehrte er zu uns nach Birmingham zurück. Ich erinnere mich an ihn damals beim Frühstück. Ich wollte, dass er mir die Flocken gab, aber er sprach nur über Schindler. Ich musste den Schulbus erreichen, er wollte, dass ich zuhöre. Er war hoffnungslos langsam mit den Flocken, ich griff nach Milch und dachte nur an den Bus. Aber als ich seine Augen sah, stutzte ich. Er sah aufgeregt aus wie ein kleines Kind, als wäre etwas in ihm erwacht. Er versuchte mir zu erklären, was diese Schindlers Arche war, die er in einem anderen Leben kannte, dass es eine Fabrik seiner Familie war. Eine Fabrik, die zwar den Löw-Beers gestohlen wurde, aber während des Krieges gute Dienste leistete. So wie viele Teenager verstand ich nicht, was es für ihn bedeutete, warum eine altmodische Geschichte aus der Vergangenheit für mich wichtig sein sollte. Ich wollte nur frühstücken und meinen Schulbus erreichen.

Ich gebe jedoch zu, dass ich mich in dem mit Zigarettenrauch gefüllten Doppeldecker nicht konzentrieren konnte. Ich schaute aus dem Fenster und versuchte, die Tschechoslowakei zu sehen. Ich versuchte etwas von dem zu erblicken, was mein Vater sah. Es waren nicht so sehr die Fakten, die er mir erzählte, mich fesselte eher der Schein in seinen Augen, als ob er wieder jung wäre, als wäre er wieder ein Kind.

Das letzte Ziel des Themenweges ist die sogenannte Schindlers Arche – die Löw-Beer-Fabrik –, ein einzigartiges Arbeitslager, in dem Juden aus der sogenannten Schindlers Liste vor der Deportation nach Auschwitz gerettet wurden. Die Geschichte wurde dank Steven Spielbergs mit einem Oscar ausgezeichneten Film weltbekannt. Es ist einer der berühmtesten Orte des Zweiten Weltkriegs und liegt nur eine knappe Zugstunde von Brünn entfernt.

Brněnec

Brünnlitz.Foto:Tomáš Bláha

Tipp: Einige Züge auf der Linie Brünn – Prag halten in Březová nad Svitavou. Schindlers Arche, d.h. die ehemalige Löw-Beer-Fabrik, liegt ca. 500 m südlich vom Bahnhof. Daniel Low-Beer hat den heruntergekommenen Fabrikkomplex gekauft und möchte hier in Zusammenarbeit mit dem Stiftungsfonds Archa – der Familie Löw-Beer und Oskar Schindler – ein Museum und ein Denkmal mitteleuropäischer Juden errichten.

Sehen Sie sich auch den Film Schindlers Liste an, insbesondere die Szene, in der Schindler am Ende des Krieges vor den Fabrikarbeitern spricht, und die Szene, in der „seine“ Juden ihm einen Ring aus ihrem Zahngold übergeben. Auf dem Ring ist eingraviert: Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.

Besuchen Sie die eindrucksvollen originalen Fabrikgebäude in Brněnec und lesen Sie auch mein Buch Arks, die wahre Geschichte eines unwahrscheinlichen Überlebens.