09 | Fabrik Václavská

Adresa: Václavská 226/2

Eines der Fabrikgebäude der Firma Aron & Jakob Löw-Beer´s Söhne.

In der Václavská Nr. 2 steht bis heute eine der Familienfabriken. Die Gebäude erfüllen zwar nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck, aber zumindest die Straßenfassade ist gut erhalten. Diese Fabrik wurde 1877 von Jakobs Sohn Leopold Löw-Beer gegründet.

Jakob Löw-Beer verließ das Ghetto in Boskovice und demonstrierte seine Trennung von der alten Lebensweise auch dadurch, dass er einem seiner Söhne den typisch österreichischen Vornamen Leopold gab. Leopolds Bruder Isaac errichtete in einer ehemaligen Papierfabrik in Brněnec eine florierende Textilfabrik. Leopold, der ein Bankinstitut in Wien besaß und seinen Bruder finanziell unterstützte, kaufte 1877 eine Fabrik (ehemals Gebrüder Popper) in Brünn in der Straße Václavská, die er in das Familienunternehmen einverleibte. Nachfolgende Generationen modernisierten und erweiterten den Fabrikbetrieb. Die letzte Besitzergeneration – Felix, Walter, August und Marie (Mitzi) Löw-Beer – setzte diese Entwicklung fort. Die Familienfirma Aron & Jakob Löw-Beer’s Söhne beschäftigte an die 1.500 Personen, hatte Produktions- und Verkaufsniederlassungen im Ausland, und fast die Hälfte ihrer Produktion wurde buchstäblich weltweit exportiert. Während des Zweiten Weltkriegs wurden alle Werkteile von den Nazis besetzt. Felix war damals bereits tot, Walter emigrierte nach England, August nach Schottland, Mitzi starb 1940 in einem Konzentrationslager.

Von den bescheidenen Anfängen des Textilgeschäfts noch im Boskovicer Ghetto über die wachsenden Werke in Brněnec, Brünn und anderswo in der Umgebung wurde die Firma Aron & Jakob Löw-Beer's Söhne zum einzigen europäischen Textilunternehmen, das den gesamten Produktionsprozess von der Rohwolle bis zum Endprodukt beherrschte. Das Textilunternehmen konnte auf Veränderungen in Österreich-Ungarn reagieren, bewältigte den Übergang zu den Bedingungen der demokratischen Tschechoslowakei und überlebte mit großen Schwierigkeiten den Zweiten Weltkrieg, bis es anschließend von den Kommunisten verstaatlicht wurde. Nach der Revolution 1989 verlor die Fabrik die russischen Märkte und produzierte nur an einem Tag pro Woche. Der damalige Direktor František Olbert reiste nach Dänemark, wo er einen Vertrag mit einem dortigen Hersteller von Luxusmöbeln aushandelte. Die Fabrik lief zeitweilig mit voller Leistung. Heute ist die Textilproduktion vollständig eingestellt und die Gebäude werden entweder baufällig oder für andere Zwecke umgebaut.

Továrna na Václavské 19.stol

Fabrik in der Straße Václavská in Brünn, 1897. Foto aus dem Buch Arks.

Továrna na Václavské dnes

Fabrikgebäude heute. Foto: Štěpán Kaňa.

Aus den Erinnerungstexten von Daniel Low-Beer:

Was geschah 1938? Nach dem Einmarsch der Nazis in die Tschechoslowakei stand mein Großvater Walter Löw-Beer an der Grenze, die gerade die Tschechoslowakei, Europa sowie die jüdische Welt gespaltet hatte. Die durch das Münchner Abkommen im September 1938 geschaffene neue Grenze führte entlang des Baches an unserer Fabrik in Brněnec. Mein Großvater, nur mit einem Stock bewaffnet, stellte sich Auge in Auge mit deutschen Soldaten auf der anderen Seite des Baches. Er sagte ihnen, er sei in der Tschechoslowakei und sie dürften nicht weiter. Ein Jude, der seine Heimat verteidigte. Die Deutschen stiegen von ihren bewaffneten Fahrzeugen herab und schlugen Lager am Ufer auf. Sie baten meinen Großvater, zu ihnen zu kommen und mit ihnen zu besprechen, was als nächstes zu tun wäre. Wenn mein Großvater damals hingegangen wäre, wäre er sicherlich verloren gewesen, aber er blieb stehen, geschützt von einem Bach und seinem Stock, und hatte den Soldaten empfohlen, in Prag oder Berlin anzurufen und den genauen Grenzverlauf selbst zu überprüfen. So verzögerte Walter Löw-Beer den Einmarsch der Nazis in diesen Teil der Tschechoslowakei für ganze drei Tage. Meine Großmutter war immer stolz auf diese Geschichte. Nachdem sie sie mir erzählt hatte, sah sie fragend auf, als ob sie den Himmel fragte: Wenn mein Walter es konnte, warum konnten es nicht die Anderen, die mehr Mittel als nur einen Stock hatten?

Ich habe mir oft die Frage gestellt, was mein Großvater an diesem Tag verteidigte. Er war tschechischer Patriot, sprach Tschechisch, aber auch Deutsch, Französisch und Englisch, und er war Jude. Mein Großvater war Europäer und lehnte es ab, in Stücke aufgeteilt zu werden. Dennoch musste er seine Heimat und seinen Besitz verlassen. Er verlor alles, sogar einen Teil seiner Familie, eine einzigartige Kultur und einen Teil von sich selbst. Das Überleben der Juden und meiner Familie hing nur von den einzelnen „Lebensarchen“ ab, die ausliefen und landeten, wo immer es möglich war. Die Löw-Beers leben heute weltweit verstreut – in Brasilien, Kanada, Amerika, Australien, England, in der Karibik und der Schweiz. In der Tschechoslowakei hat niemand überlebt.

Der Weg führt weiter zum Hauptbahnhof, den Sie wieder mit der Straßenbahn Nr. 1 (oder auch einer anderen) von der Haltestelle Václavská zur Haltestelle Hlavní nádraží erreichen.