03 | Villa Ernst Löw-Beer: Emanzipation

Adresa: Kalvodova 108/8

Hier lebte 1935–1938 Ernst Löw-Beer, ein Sohn von Benno Löw-Beer.

Das großzügige Baukonzept kann die Inspiration durch die Haus von Ernsts Cousine Grete Tugendhat nicht leugnen. Die Architekten Rudolf Baumfeld und Norbert Schlesinger arbeiteten an mehreren Aufträgen für die Familie und waren mit dem Haus Tugendhat vertraut. Darüber hinaus wurden die Bauarbeiten an beiden Häusern von derselben Firma der Brüder Arthur und Moritz Eisler durchgeführt.

Die freistehende Haus von Ernst Löw-Beer, gesetzt in ein steiles Gelände, fällt durch ihre Glasfront auf. Dahinter befindet sich ein geräumiges Wohnzimmer, das mit dem Esszimmer und der Bibliothek verbunden ist. Die Zimmer im ersten Stock öffnen sich zu einer Terrasse. Das alles wird ergänzt durch eine weitere Dachterrasse mit herrlichem Ausblick. Im Keller befand sich die Technik eines innovativen Lüftungssystems, und wie in dem Haus Tugendhat gab es auch hier eine Dunkelkammer und eine Garage für zwei Autos. Wie andere Familienmitglieder musste auch Ernst 1938 sein Haus verlassen und in die USA emigrieren.
 Vila Ernsta Löw-Beera

Foto: Villa Ernst Löw-Beer. Foto: Štěpán Kaňa

"Das Haus von Ernst Löw-Beer wurde 1987 zum Kulturdenkmal erklärt und ist in dem Buch Slavné brněnské vily. 77 domů s příběhem (Berühmte Brünner Villen. 77 geschichtsträchtige Häuser) als eine der sehenswürdigsten Villen in der ehemaligen Tschechoslowakei beschrieben. Familienhäuser der Mitglieder meiner Familie veranschaulichen die bemerkenswerte Zeit, die böhmische und mährische Juden erlebten, nachdem sie 1848 ihre Ghettos verlassen konnten, bis 1938, als sie die Tschechoslowakei verlassen mussten.

Das Leben im Ghetto war von der Außenwelt getrennt, wie eine Feder zusammengedrückt und für die Befreiung bereit. Als sich die Feder 1848 endlich entspannte, begann unsere Emanzipation. Juden halfen bei der Schaffung der modernen Welt und bereicherten die moderne Wissenschaft, Psychologie, Musik, Politik, Wirtschaft oder Literatur. Die jüdische Kultur manifestierte sich durch Einstein, Freud, Marx, Schönberg, Mahler, Proust, Heine oder Kafka und fand während der Entdeckung ihrer Vergangenheit eine neue, radikale und moderne Zukunft." (Daniel LB, The Arks)

Boskovice - ghetto

Boskovice im 19. Jahrhundert. 

 Was ist mit Ernst und seinem Bruder Fritz, einem berühmten Sammler chinesischer Kunst, passiert?

"Als Deutschland im September 1938 das Sudetenland besetzte, wollte keiner der Brüder weggehen. Sie waren doch hier zu Hause. Ihre anschließende Flucht in letzter Minute hat mir Fritz’ Sohn Johnny beschrieben: „Am 15. März 1939 besetzten die Nazis den Rest der Tschechoslowakei, und die beiden erkannten, dass sie jetzt doch gehen mussten. Fritz packte zusammen, was er konnte, und fuhr mit dem Zug nach Prag. Während er sich versteckte, versuchte seine Frau Mimi eine Ausreisegenehmigung zu beschaffen. Es war unangenehm kalt. Sie wurde von einem jungen Mann auf der Straße angesprochen und höflich auf Tschechisch gefragt, ob sie Jüdin sei. Er fragte sie angeblich so ernst und mitfühlend, dass sie keinen Grund sah, ihn anzulügen. Der Junge brachte sie in ein Büro der Gestapo, wo sie eine Ausreisegenehmigung für eine große Summe oder vielmehr Bestechung erhalten konnte. Nachdem sie erfahren hatte, wie viel Geld verlangt wurde, musste sie zur Bank gehen. Mimi meinte immer, dass der tschechische Junge sie ausgewählt habe, weil sie so schön war. Was auch immer der Grund war, die Ausreisegenehmigung erlaubte ihnen, mit dem Zug quer durch Deutschland nach Holland zu fahren. Aber die Gestapo verhörte sie im Zug. Sie hatten Angst. Dank der Tatsache, dass Fritz’ Sammlung der chinesischen Kunst gerade für eine Ausstellung in Amsterdam geliehen wurde, kam der Museumskurator an die niederländische Grenze und verbürgte sich für sie. Andernfalls hätte der niederländische Grenzschutz sie wahrscheinlich zurückgeschickt. In Prag wurden sie von Mimis Mutter Anna zum Bahnhof begleitet. Sie versuchten sie zu überreden, mit ihnen zu fahren, aber sie lehnte es ab in der Überzeugung, dass die Nazis einer älteren Frau nichts machen würden. Sie kehrte in ihre Prager Wohnung zurück und schaffte es noch, ihrer Tochter etwas Möbel zu schicken. Wie sie es geschafft hat, weiß ich nicht. Später ist sie in Auschwitz umgekommen. ...

Beide Brüder und Mimi stiegen am 2. September 1939 auf das britische Schiff Athenia ein, das nach Amerika fuhr. Am folgenden Tag erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg, und nur wenige Stunden später wurde ihr Schiff als das überhaupt erste von einem deutschen U-Boot torpediert. Die Passagiere waren im Speisesaal, als eine Explosion das Schiff erschütterte und das Licht ausging. Es herrschte völlige Dunkelheit. Ernst und Fritz begannen zu streiten, ob das Schiff von einer Mine oder einem Torpedo getroffen wurde. Mimi sagte, sie stünden unter Schock. Ernst zog die Streichhölzer heraus und fand dank ihres Lichts den Weg an Bord, wo zuerst Frauen und Kinder die Rettungsboote bestiegen. Mimi stieg in eins ein, beide Brüder später in ein anderes. Aber die Strömungen trugen die Boote in verschiedene Richtungen. In keinem von ihnen schaffte man, Löcher für die Regenwasserableitung zu verstopfen, so dass sie auf dem stürmischen Meer die ganze Nacht lang ständig Wasser schöpfen mussten, das ihnen bis zu den Knien reichte. Mimi versprach sich damals, wenn sie überleben würde, würde sie ihr Medizinstudium fortsetzen und Ärztin werden. Nach dem Krieg schloss sie 1957 tatsächlich die medizinische Fakultät ab.

Fritz Löw-Beer mit seiner Sammlung chinesischer Kunst in der Haus in Zwitavka.  Photo The Löw-Beer Villas: a history of an Entrepreneurial Family, MAS Boskovicko Plus and MAS Svitava, 2014

Fritz Löw-Beer mit seiner Sammlung chinesischer Kunst in der Haus in Zwitavka. Photo The Löw-Beer Villas: a history of an Entrepreneurial Family, MAS Boskovicko Plus and MAS Svitava, 2014

Die Brüder wurden von einem norwegischen Schiff gerettet und nach Irland gebracht, Mimi von einem anderen Schiff nach Schottland. Von den 1.418 Personen an Bord der Athenia kamen 98 Passagiere und 19 Besatzungsmitglieder ums Leben. Mimi, Fritz und Ernst trafen sich erst in New York wieder. Ernst blieb dort, heiratete dreimal und hatte drei Kinder. Er starb am 15. April 2000 im Alter von neunundachtzig Jahren.“

Aber sie verloren alle Besitztümer und Kleider auf der Athenia, es blieben ihnen nur die Möbel von Mimis Mutter und Fritz’ große Sammlung von der Amsterdamer Ausstellung. Diese hat glücklicherweise den Krieg unbeschadet überstanden, und heute können wir sie überwiegend im Stuttgarter Kunstmuseum, im Victoria and Albert Museum sowie in Boston oder Berlin bewundern.“ (Daniel Low-Beer, The Arks)

Vila Stiassny

Mitlgieder der Familien Löw-Beer, Tugendhat und Stiassni vor dem Haus Stiassni, Meeting Brno 2017. Foto: 

Tipp: Einige weitere Stationen auf unserem Themenweg befinden sich in der nahe gelegenen Straße Hlinky, wohin Sie von der

Haus von Ernst Löw-Beer in entgegengesetzter Richtung durch die Straßen Kalvodova und Hroznová leicht gelangen. Auf dem Weg kommen Sie am Haus Stiassni (Hroznová 14) vorbei. Dieses Gebäude wurde zwischen 1927 und 1929 nach einem Entwurf des Brünner Architekten Ernst Wiesner erbaut. Das Haus und das ausgedehnte Grundstück sind jetzt für die Öffentlichkeit zugänglich. Neben dem schönen Haus und einem großen Garten ließen die Eigentümer – Alfred und Hermine Stiassni – auch einen Tennisplatz, ein Schwimmbecken und einen Sportsaal errichten. Das Erdgeschoss des Hauses bot großzügige Räumlichkeiten für das gesellschaftliche Leben, der erste Stock eine Privatsphäre für die Familie. Aber auch ihr Glück hielt nicht lange an, auch sie mussten 1938 fliehen. Das gesamte Areal wurde dann von den Nazis und nach dem Krieg von den tschechoslowakischen Kommunisten genutzt, die es zur „Regierungsvilla“ machten, einer Luxusresidenz für wichtige Gäste und Staatsbesuche. Man erzählt, dass auch Fidel Castro hier abgestiegen sei. Die Familie Stiassni ließ sich in den USA nieder. Ihr ursprüngliches Zuhause besuchten sie erneut (gemeinsam mit der Familie Löw-Beer) dank der Aktivität des Vereins Meeting Brno, der 2017 Nachkommen dieser Familien nach Brünn einlud.

Wenn Sie mehr über die Schicksale des Hauses und der Familie erfahren möchten, kaufen Sie hier das Buch Stopy textilních magnátů (Die Spuren der Textilmagnaten in Brünn, Muzeum Brnenska 2017).