Hier lebten Felix mit Gusti und ihre Kinder Elisabeth (Eliška), George (Gogo) und Herbert.
1882 erbauten Jonas und Lina Löw-Beer, bekannte Brünner Mäzene, die mit dem Unternehmen Aron & Jakob Löw-Beer’s Söhne in Verbindung standen, ein einstöckiges Haus in Hlinky 104, das sie an der Wende zum 20. Jahrhundert auf das benachbarte Grundstück ausweiteten. Jonas und Lina hatten keine Kinder, umso wohltätiger waren sie. An Lina erinnerte das sogenannte Linaheim, ein Häuserkomplex für alte Fabrikarbeiter. Nach Jonas wurde eine der Straßen in Brno (die heutige Celní) benannt.
Seit Ende der 1920er Jahre gehörte das Haus der Familie ihres Neffen Felix, die es 1928 vom Wiener Architekten Rudolf Bredl umbauen ließ. Die Herrichtung betraf allerdings nur die Innenräume, es beteiligte sich daran beispielsweise die Brünner Sanitärfirma J. L. Bacon, die auch am Bau des Hauses Tugendhat tätig war.
Das Haus von Felix und Gusti Löw-Beer in Hlinky 104. Foto: Štěpán Kaňa.
Aus den Erinnerungstexten von Daniel Low-Beer:
„Felix war sehr präzise, ich erinnere mich an seinen Schreibtisch in der Fabrik, immer sehr ordentlich, mit perfekt ausgerichteten und geschärften Stiften. Ich hatte fast das Gefühl, dass er irgendwelche andere zum Schreiben benutzte und danach versteckte. Auf den ersten Blick wirkte er mürrisch, aber in der Tat war er sehr nett zu uns, als Kind konnte ich mir fast alles leisten“, hat sich mein Onkel Gerry erinnert.
Felix, der älteste der Brüder, war ein sehr umsichtiger Fabrikleiter, er hatte eine enge Beziehung zu den Mitarbeitern und kam immer als erster in die Fabrik. Er liebte die Fischerei, die Jagd und das Schießen. 1932 starb er unvermittelt an einem Herzinfarkt. Seine Tochter Eliška erinnerte sich, dass sehr viele Menschen um ihn damals aufrichtig trauerten. In der Fabrik wurde er danach durch seine beiden Söhne Herbert und Georg (Gogo) ersetzt.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, studierte ihre damals 16jährige Schwester Eliška in Genf an der allerersten internationalen Schule des Völkerbundes, die heute den Namen Ecolint trägt. Eliška erzählte mir erst von ihrem Schicksal, als sie schon über neunzig war. Früher wollte sie sich nicht erinnern, sie lebte mit Blick nach vorne, sie hat überlebt und lebte in Amerika nunmehr für ihre Familie, für die Kinder und Enkel. Sie hatte ein seltsames Funkeln in den Augen, einen Sinn für Humor. „Die Tschechoslowakei – es war ein großer Optimismus, wir waren Teil einer neuen Ära. Das Wort „jüdisch“ wurde in unserem Haus bis zu dem Krieg nie ausgesprochen. Unsere Familie war enorm zusammenhaltend, wir kannten uns gegenseitig sehr gut und hielten uns überwiegend für Tschechen.“
Eliška Löw-Beerová während des Zweiten Weltkriegs. Foto aus dem Buch Arks.
Als die Deutschen vorrückten, musste die Genfer Schule im Mai 1940 geschlossen werden. Die Schulleiterin, Marie-Thérèse Maurett, brachte eine Gruppe von zwanzig restlichen Studenten, darunter auch Eliška, nach Südwestfrankreich und brachte sie in ihrer Sommervilla unter. Viele Kinder konnte sie dann auf ein Schiff nach England bringen, aber keine jüdischen, die bekamen kein Visum. Eliška besaß nur ein paar Kleidungsstücke und auch ihren Hund. Sie hatte fast keine Nachrichten von ihrer Familie, sie erhielt nur ein paar weitergeleitete Briefe. Sie versteckte sich, weil die Deutschen jeden Abend am Strand vor dem Haus patrouillierten. Eliška hat mir erzählt, dass ihr Hund unfehlbar erkannte, welche Beine den deutschen Soldaten gehörten, wahrscheinlich durch die Art, wie sie sich bewegten. Er lief immer heraus, sie zu beißen. Die Situation war unhaltbar. Eliška wusste, dass sie etwas unternehmen musste, dass sie weggehen musste. Am Bahnhof bestach sie einen Lokführer, damit er sie in einem leeren Wagen einsperrte. Sie erinnerte sich, wie sie deutsche Soldaten am Zug vorbeimarschieren hörte. „Alles war so unglaublich schrecklich, als die Deutschen mit ihrem Gänsemarsch hin und her stapften. Diesen Klang werde ich nie vergessen.“ Sie schaffte es, die Grenze zwischen dem besetzten und freien Frankreich zu überwinden. Sie versuchte, ihre Mutter zu finden. Ihr Hinweis war ein Brief, der mit einem Hotelstempel aus Cannes an die Schule geschickt wurde. „Ich hatte Hunger, das ganze Geld gab ich als Bestechung aus, um über die Grenze zu kommen, auch mein Hund hatte Hunger, und dann habe ich meine Mutter in einem Luxushotel in Cannes gefunden.“ Eliška erinnerte sich, wie sich ihre Mutter einredete, zu der Zeit vor dem Krieg zu leben, wie sie sich weigerte, die Realität anzuerkennen und meinte, Ende des Sommers in die Tschechoslowakei zurückzukehren. „Ich musste es in meine Hände nehmen. Ich wurde erwachsen. Zuvor hatte ich noch nie Entscheidungen treffen müssen, für etwas sorgen müssen, etwas tun müssen, und plötzlich musste ich. Ich hatte sogar keine Zeit mich zu fürchten. Ich war frustriert, es war schwierig, überhaupt was zu erfahren, in Warteschlangen für ein Visum zu stehen, aber ich hatte keine andere Wahl.“ Glücklicherweise war der brasilianische Botschafter in Frankreich, Luis Martins de Souza Dantas, ein außergewöhnlicher Mann. Er wird auch „brasilianischer Schindler“ genannt. Trotz des französischen und brasilianischen Verbots stellte er Visa aus und rettete 800 Juden. Eliška und ihre Mutter waren unter ihnen.
Der „brasilianische Schindler“ Luis Martins de Souza Dantas. Foto:Fundação Alexandre de Gusmão
Eliška konnte ihre Mutter überreden, an Bord der Alsina einzusteigen und nach Brasilien zu fahren. „Auf dem Schiff für 300 Personen drängten sich 600. Zu der Zeit geschahen unglaubliche Sachen, unerwartet gut und schrecklich, alles war unverständlich. Ich habe einen Jungen namens Eddie kennengelernt, er war schlau, er vermochte verschiedene Hindernisse überwinden. Er ging in die Piano Lounge in der ersten Klasse, um Chopin oder Jazz zu spielen. Wir haben uns gut verstanden, wir waren ineinander vernarrt, wie man so sagt. Aber meine Mutter war damit nicht einverstanden. Er war Pole und Jude, was für meine Mutter unakzeptabel war.“
Die Briten bombardierten die Schifffahrtsrouten, so dass das Schiff nicht weiter als nach Dakar in Senegal kam. Nach sechs Monaten mussten alle Passagiere in dem von Deutschland besetzten Casablanca aussteigen. Die deutsche Verwaltung schickte die meisten Leute vom Schiff außer zwei oder drei direkt in die Lager. Eliška und ihre Mutter hatten Glück. Mit Hilfe von Eddie gelang es ihnen, Tickets nach Rio via Gibraltar und Cádiz zu bekommen. Als sie schließlich in Rio ankamen, wurde ihnen mitgeteilt, dass ihre Visa bereits abgelaufen seien und sie nach Europa zurückkehren müssten. Wie Chaim Weizmann schrieb: „Die Welt ist in Länder aufgeteilt, in denen Juden nicht leben können, und solche, in die Juden nicht einreisen dürfen“
Eliška verbrachte mit ihrer Mutter und Eddie lange Wochen in der Quarantäne und wartete darauf, nach Europa zurückgeschickt zu werden. „Wir konnten atmen, wir konnten spazieren, wir hatten Essen.“ Glücklicherweise kam ihr Bruder auch nach Brasilien, er beschaffte ihnen gegen ein riesiges Bestechungsgeld für einen „Schwarzen Engel“, einen Chef der Präsidentenleibwache, die Aufenthaltserlaubnis. „Man verliert die Perspektive der Bedrohung, wenn man sich darin befindet. Ich habe es geschafft, mich von einem ungeformten Kind zu einer Frau zu entwickeln.“
Eliška Löw-Beer hatte Kinder und Enkelkinder, sie lebte in Lateinamerika, Indien und Thailand. Anschließend ließ sie sich in North Carolina nieder und arbeitete an demografischen und gesundheitlichen Erhebungen. Bis zu ihrem Tod im Mai 2004 war sie in vielen Freiwilligenorganisationen aktiv.