Hier lebten Walter mit Alice und ihre Kinder Friederike (Friedl), Gerhard (Gerry) und Thomas (Tom).
Johanna, eine Enkelin von Jakob Löw-Beer, und ihr Ehemann Jonas Karpeles, einer der Hauptpartner der Gesellschaft Aron & Jakob Löw-Beer’s Söhne, kauften 1892 das Grundstück Hlinky 86. Das prächtige palastartige Gebäude, dessen Entwurf Arthur Brausewetter zugeschrieben wird, dominiert noch immer die Straßenbebauung. Ab 1909 wurde das Haus von der Familie von Johannas Bruder Arnold Löw-Beer bewohnt, in den 1920er Jahren ging es in den Besitz von Arnolds Sohn Walter und dessen Frau Alice, geborene Stadler, über, die dort bis 1939 lebten. Während des Zweiten Weltkriegs diente es dem deutschen SD und der SS.
Foto: Haus Löw-Beer in Hlinky 86. Foto: Štěpán Kaňa
Aus den Erinnerungstexten von Daniel Low-Beer:
Ich konnte dabei sein, als mein Onkel Gerry 1998 nach langen sechzig Jahren nach Hause zurückkehrte. Er beschrieb mir, wie das Haus vor 1938 aussah. Er erinnerte sich an eine unbeschwerte Mischung aus hoher Kunst und Alltag. „Künstler wie der Cellist Feuermann und der Geiger Kugelmann kamen zu uns. Und die Partys! Sie fanden nur selten statt und wurden von meiner Mutter organisiert. Wir Kinder durften nicht teilnehmen, aber wir sahen heimlich durch die Schlitze in der Tür zu, wie alle Kinder. Hinter dem Haus war ein Garten am Hang, und als der Schnee kam, fuhren wir dort auf Schlitten. Bis heute ist mir nicht klar, wie es möglich ist, dass wir uns nicht den Hals gebrochen haben, es war eine Riesengeschwindigkeit. Es gab eine große Bibliothek im Haus, die etwa die Hälfte der Hausfront einnahm, ich erinnere mich an ganze Wände voller Bücher. Mein Vater hat nie darin gearbeitet, sondern war nur dort, um zu lesen. Jedes Jahr lernte er eine neue Sprache, indem er mithilfe eines Wörterbuchs las – Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Japanisch, mit seinen Freunden sprach er auch Lateinich. Im Obergeschoss befand sich ein Salon mit einem schönen Blick auf den Garten. Es gab eine riesige Linde dort, zwei Gewächshäuser, eines davon beheizt. Der Gärtner hatte dort auch ein kleines Haus. Wir wussten, dass er Nazi geworden war, aber mein Vater war tolerant und wollte ihm deswegen nicht kündigen. Aber ich stritt mit ihm, ich verteidigte die Franzosen. Einige unserer Mitarbeiter waren sehr antisemitisch, aber sie haben es nie laut gesagt, sondern nur Frankreich kritisiert.“
Mein Onkel Gerry erzählte mir auch, wie er 1938 die Tschechoslowakei unfreiwillig verließ. Er war damals vierzehn, und seine Eltern entschieden, dass er und seine Schwester Friedl in eine Schule nach Großbritannien fahren mussten. Die ganze Familie reiste nach Prag, woher die Kinder alleine weiterfahren sollten. Aber Gerry sah in den Prager Straßen Soldaten, die zur Verteidigung der freien Tschechoslowakei mobilisiert wurden. Als sie an einer der Soldatengruppen vorbeifuhren, öffnete er die Autotür, sprang auf und rannte los. Er wollte in die Armee rekrutiert werden, er wollte sein Land verteidigen. Aber die Soldaten wollten natürlich seine Dokumente sehen und fanden das Geburtsdatum. Der Offizier habe ihn genau angesehen und gesagt, er sei zu jung und die Armee stark genug, um auch ohne Vierzehnjährige zu gewinnen. Gerry war immer sehr stolz auf diese Geschichte. Als er mir darüber erzählte, sah ich bei ihm einen patriotischen Eifer wie noch nie zuvor. Er war fest entschlossen, die Tschechoslowakei nicht zu verlassen, er wollte sie verteidigen. Seine Eltern suchten verzweifelt nach ihm, fuhren durch die Straßen von Prag und fragten Soldaten, ob sie ein verlorenes Kind, ihren vierzehnjährigen Sohn, gesehen hätten. Schließlich entdeckten sie ihn auf dem Wenzelsplatz, sein Vater brachte ihn kraft seiner Autorität und mit Gewalt zurück ins Auto. Aber Gerrys Versuch, sich der Armee anzuschließen, führte dazu, dass sie ihren Zug verpassten. Sie beschlossen, ihn mit dem Auto an der Grenze einzuholen. Angesichts der Spannungen in den tschechisch-deutschen Beziehungen dachten sie, dass es dort zu einer Verzögerung kommen würde, und sie hatten Recht. Schließlich setzten die Eltern ihre beiden Kinder in einen Eisenbahnwagen und warteten, bis sie sicher waren, dass Gerry nicht herausspringen würde. So verließ mein Onkel unfreiwillig die Tschechoslowakei. Er sah dann seine Heimat sechzig Jahre lang nicht mehr, und das Gefühl einer gewaltsamen Entwurzelung hatte ihn für den Rest seines Lebens nicht verlassen.
Beide Geschwister mussten allein durch Deutschland reisen. Gerry erinnerte sich an die deutschen Soldaten, die durch die Wagen hin- und hergingen und immer die Dokumente überprüften. Sie konzentrierten sich hauptsächlich auf Friedl, eine Schönheit mit leicht exotischem Aussehen, deren jüdisch-mährischen Züge sie nirgendwo hintun konnten. Gerry erzählte mir, dass die Soldaten versuchten mit Friedl zu sprechen und anzubändeln, sie wussten nicht, dass sie Jüdin war. Sie begann sogar mit ihnen über Hitler zu streiten. Gerry habe sie unauffällig getreten, um sie zum Schweigen zu bringen. Sogar Mitglieder der Gestapo stiegen in den Zug ein, und „Mein Gott, sie sahen wirklich aus wie Gestapomänner, in ihren Ledermänteln, sie schauten sich die Reisepässe an und beobachteten dann die Gesichter. Wir hatten kein Problem, wir hatten tschechoslowakische Pässe, sie konnten nicht wissen, dass wir Juden waren. Wenn sie das getan hätten, hätten sie uns zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich noch nichts angetan, aber natürlich konnten sie alles tun. Sie sahen wirklich aus wie Filmschurken mit ihren tief gezogenen Hüten und hochgeschlagenen Kragen.“ Beiden Geschwistern ist es gelungen, ihr Ziel sicher zu erreichen, aber Großbritannien war Gerry zufolge zu Ausländern nicht sehr gastfreundlich. „Wir kamen in die Internatschule Gordonstoun in Schottland an. Die Atmosphäre war wie die Nebel im Ärmelkanal. Der Kontinent war unerreichbar, und ich hasste die Briten. In der Tschechoslowakei haben wir Ausländer geschätzt, hier galten sie als Minderwertige und ihre Art als seltsam. Als ich irgendwo zum Tee kam, boten mir alle Kekse an, und ich fand es zuerst nett von ihnen. Aber dann wurde mir klar, dass sie nur mein ‚senkjuu‘ mit einem starken Akzent hören wollten, damit sie mich auslachen konnten. “
Ich ging mit Gerry zum Abendessen in ein Restaurant in der Nähe seines Geburtshauses in Hlinky. Wir bestellten einen sehr guten mährischen Weißwein. Nachdem wir ihn austranken, wurde mir klar, dass ich meinen Onkel noch nie so zufrieden gesehen hatte. Er sah immer ein bisschen chaotisch aus, als wäre er nicht im Einklang mit der Zeit. Wir haben über ihn gescherzt, dass er unordentlich aussieht, auch wenn er nichts anhat. Und plötzlich dachte ich, seine Kleidung steht ihm gut, er hatte eine elegante Jacke und seitlich gescheiteltes Haar. Er wirkte ausgeglichen, er war zu Hause und sogar zur richtigen Zeit. Als ob ein Teil seiner Persönlichkeit schon immer hier geblieben und in die tschechoslowakische Armee eingerückt wäre, gekämpft und die Deutschen besiegt hätte. In seinen funkelnden Augen sah ich den vierzehnjährigen Bub mit allem, was er hier vor sechzig Jahren verlassen hatte.
Tante Friedl hat mir erzählt, wie sie noch ihren anderen Bruder, meinen Vater Tom, in Sicherheit brachte. Mein Vater war das jüngste der Kinder und fuhr mit seinem Kindermädchen nach Frankreich. Aber die Geschwindigkeit, mit der die französische Armee zusammenbrach, war unerwartet. Die Familie erkannte, dass Friedl die einzige war, die helfen konnte, aber sie musste schnell handeln. Sie verließ die Schule in Großbritannien und reiste gegen den Strom der Flüchtlinge zu ihrem Bruder. Sie änderte ihren Pass ab und trug darin Tom als ihren Sohn ein. Er war damals sechs und sie siebzehn. Sie bekamen zwei der letzten freien Karten für ein Schiff, das nach England zurückfuhr. Glücklicherweise gelang es ihnen, trotz offensichtlicher Unklarheiten in den Dokumenten, sich einzuschiffen.
Foto: Reisepass von Friedl Löw-Beer mit dem Namen ihres Bruders, den sie für ihren Sohn ausgab. Foto: Daniel Low-Beer, mit Dank an Saskia Brown.
Sobald sie jedoch ausliefen, musste Friedl zum Verhör. Sie hielt an ihrer Geschichte fest und wiederholte, dass sie in der Schule erwartet würde und ohne ihren Sohn nicht sein konnte. Sie war sehr mutig, und vielleicht spielte auch ihr unbestreitbarer persönlicher Charme eine Rolle, aber alles hing in erster Linie von der Nachsicht der Grenzschutzbeamten und von deren Bereitschaft ab, gegen die Regeln zu verstoßen.
Mein Vater erinnerte sich, dass er sowohl schockiert als auch fasziniert war, als er damals auf dem Schiff zum ersten Mal in seinem Leben Leichen sah. Friedl habe sich bemüht, ihn „als gute Mutter“ abzulenken. Mein Vater, vielleicht als der einzige Junge in der Geschichte, besuchte dann ein englisches Mädcheninternat. Tante Friedl machte sich später darüber lustig. Sie war Psychoanalytikerin und wahrscheinlich interessierte sie schon damals zu erforschen, was es bedeutet, das Zuhause zu verlieren und sich in einer Fremdsprachenschule für das andere Geschlecht zu befinden. Gleichzeitig wusste sie allerdings, dass dies einer ihrer großen Lebenserfolge war. Sie brachte meinen Vater in Sicherheit.
Mein Vater wurde Brite, aber er behielt immer einen Teil seines „Tschechentums“. „Er war sehr lebhaft und temperamentvoll. Er war voller Emotionen, empfänglich. Er war nie langweilig. Er hat die englische Korrektheit besiegt und meine Welt viel intensiver gemacht“ – so erinnerte sich an ihn seine Frau Ann, meine Mutter.
Foto: Daniels Eltern Ann und Thomas Low-Beer. Foto aus dem Buch Arks.
Walter, Alice und ihre Kinder Friedl, Gerry und Thomas ließen sich in England nieder. Friedl wurde Psychoanalytikerin und trug zur Schaffung einer modernen Biographie des heiligen Augustinus bei, sie lebte und arbeitete in Oxford. Gerry wurde Psychiater, in seinem Haus in London beherbergte er viele tschechische Studenten sowie Personen, die halfen, den Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion aufzudecken. Thomas wurde Arzt, machte mehrere Forschungsentdeckungen in der Gastroenterologie und förderte mit seiner Frau Ann den medizinischen und musikalischen Austausch zwischen Brünn und Birmingham.